Leon ist traurig. In diesem Jahr kann Papa nicht mit Mama, Fiona und ihm Weihnachten feiern. Stattdessen wird er das Weihnachtsfest fern von Zuhause in Prizren, einer Stadt im Süden des Kosovo verbringen. Leons Papa ist Arzt und Soldat bei der Bundeswehr. Mit vielen anderen Soldaten soll er dort die Bevölkerung versorgen und den Frieden in der Region sichern. Das Papa an Geburtstagen oder in den Ferien nicht immer da sein kann, kennt Leon schon. Das findet er zwar auch nicht toll, aber andererseits ist er auch stolz auf das, was sein Papa für die Freiheit anderer Menschen leistet. Doch, dass er ausgerechnet an Weihnachten nicht kommen kann, findet Leon schrecklich. Seine Schwester Fiona ist noch zu klein, um deshalb traurig zu sein. Leon hat für Papa auch ein Weihnachtsgeschenk gebastelt, das mit der Feldpost nach Prizren geschickt worden ist. Das Weihnachtspäckchen haben sie schon lange vor Weihnachten gepackt und verschickt, damit es auf jeden Fall rechtzeitig das Hauptquartier erreicht. Je näher das Weihnachtsfest rückt, desto mehr macht sich Leon Gedanken darüber, wie es Papa am Heiligabend im fernen Kosovo gehen mag. Er weiß, dass die Soldaten auch viele Weihnachtsbäume aufstellen werden, eine Weihnachtsandacht und Ansprachen gehalten werden und Papa mit den Soldatinnen und Soldaten aus vielen anderen Ländern Weihnachten feiern wird. Trotzdem wünscht sich Leon, er könnte seinen Papa am Heiligabend wenigstens sehen. Jeden Abend sitzt er an seinem Kinderzimmerfenster und starrt in den dunklen Abend hinaus. Dabei hält er den kleinen Schutzengel aus Ton, den Oma Lotte ihm geschenkt hat, ganz fest in seiner Hand. „Kannst du nicht machen, dass ich meinen Papa an Weihnachten sehen kann?“, fragt Leon den kleinen Engel. Vielleicht, so denkt er sich, kann der Engel ihn nicht nur beschützen, sondern auch Wünsche erfüllen und wenn es nur dieser eine ist.
Am Heiligabend kommt Oma Lotte mit Bimbo, einem Berner Sennenhund. Mit dem haben die Kinder so viel Spaß, dass Leon für einige Zeit seinen sehnlichsten Weihnachtswunsch vergisst. Als es draußen bereits dunkel ist und die kleine Familie mit der Bescherung anfangen möchte, schaltet Mama plötzlich den Computer im Wohnzimmer ein. „Wir wollen nachsehen, ob Papa eine Email geschrieben hat“, sagt sie und lächelt. Leon rückt ganz nah an Mama heran. „Eine Email und vielleicht ein Foto, das wäre schön“, denkt Leon. Mit einem Mal erfüllt Papas Stimme den Raum: „Frohe Weihnachten aus Prizren, ihr Lieben!“ „Papa“, schreit Leon und kann sein Glück gar nicht fassen. In einem kleinen Fenster auf dem Monitor kann er seinen Papa sehen, der ihn anlacht und winkt. „Papa hat eine Webkamera an seinen tragbaren Computer angebracht, deshalb kannst du ihn jetzt sehen, und schau mal hier“, Mama zeigt auf eine kleine Kugel, die auf dem Monitor angebracht ist, „das ist unsere Kamera, so kann Papa uns auch sehen.“ Leon ist begeistert, das ist sein schönstes Weihnachtsgeschenk. Schnell saust er in sein Zimmer und kommt mit dem kleinen Schutzengel zurück. Den hält er nun in die Kamera. „Guck mal, Papa, das ist der Wunschengel, der mir meinen größten Weihnachtswunsch erfüllt hat. Den sollst du jetzt bekommen, damit er immer auf dich aufpasst! Oma Lotte schenkt mir bestimmt einen neuen Engel!“
„Am Weihnachtsbaume die Lichter brennen, wie glänzt er festlich, lieb und mild…“, summe ich wie jedes Jahr am 23. Dezember, wenn ich den Weihnachtsbaum schmücke. Besonders gut gefällt mir die zweite Strophe: „Zwei Engel sind herein getreten, kein Auge hat sie kommen seh'n; sie geh'n zum Weihnachtstisch und beten und wenden wieder sich und geh'n.“ Denn dann packe ich vorsichtig die beiden kleinen Weihnachtsengel aus, die mir meine Großmutter vor vielen Jahren geschenkt hat. Sie sind aus feinstem Porzellan, tragen niedliche Mützchen und sind über und über mit Goldstaub bedeckt. Unter ihren Röckchen haben sie eine kleine Glocke, die klingt ganz hell, wenn man die Engelchen anstupst. Sie bekommen beide jedes Jahr ihre Ehrenplätze hoch oben in der Spitze des Baumes. „Ich mag nicht schon wieder hier oben hängen, das ist langweilig.“ Der kleine Weihnachtsengel rechts von der Spitze verzieht gelangweilt das Porzellangesichtchen. „Nun hab dich nicht so! Seit fünf Jahren hängst du jedes Jahr oben in der Tannenbaumspitze. Immerhin haben wir hier einen herrlichen Überblick.“ Das Weihnachtsengelchen links von Tannenbaumspitze lächelt zufrieden und lässt seinen Blick über den Baum schweifen. „Ach du, dir ist es ja auch egal, dass wir seit zwei Jahren an einer gewöhnlichen Fichte hängen, statt wie es uns zustehen würde, an einer Edeltanne.“ „Aber die Weihnachtsbäume sind nun einmal so teuer geworden. Was beschwerst du dich? Sei froh, dass sie überhaupt noch einen Baum aufstellt und dann noch so einen großen, prächtigen“, beschwichtigt das linke Porzellanengelchen. „Das hat sie nur gemacht, weil der Junge etwas von seinem Taschengeld dazugegeben hat. Das muss man sich mal vorstellen, dass Kinder den Weihnachtsbaum bezahlen müssen. Hörst du nie zu, wenn sich das Volk da unten unterhält?“, ereifert sich das rechte Engelchen „Ich genieße die Aussicht und erfreue mich an der festlich gedeckten Tafel und den schönen Liedern.“ Das linke Weihnachtsengelchen denkt gar nicht daran, sich die gute Laune verderben zu lassen. „Pah, dass ich nicht lache, schöne Lieder! Die können nicht einmal ein ganzes Weihnachtslied singen. Stattdessen würfeln sie um Geschenke und Liedanfänge! Und immer dieses Geschrei, wenn sie die falsche Zahl gewürfelt haben, wo bleibt denn da die Vornehmheit?“ Das Engelchen von rechts schüttelt sich, dass sein Glöckchen erklingt. „Aber sie haben Spaß und streiten sich nicht“, wirft das Engelchen von links ein. „Spaß, Spaß, was hat denn Weihnachten mit Spaß zu tun? Ich wurde doch nicht für den Spaß erschaffen, sondern für die Feierlichkeit, das Vornehme, das Edle. Sieh uns doch an, feinstes Porzellan und Goldstaub! Wir haben ein kleines Vermögen gekostet. Nun hängen wir an einer Fichte mit dicken Weihnachtsmännern aus Keramik und Silbersternen aus Holz, wie einfach und gewöhnlich.“ Da ertönt aus den unteren Tannenzweigen eine kräftige Stimme: „Mein liebes Engelchen da oben, ich habe dich zwar noch nie gesehen, aber seit fünf Jahren höre ich mir jedes Jahr, Nacht für Nacht, dein Gezeter an! Wenn es dir hier bei uns nicht gefällt, dann lass dich doch beim Abschmücken fallen, dann brichst du dir ein Flügelchen und wir haben endlich unsere Ruhe!“ Ein Raunen geht durch den Zweigenwald. „Wir hängen gerne an diesem Baum und lieben es ihn schön zu schmücken!“, melden sich die Holzsterne zu Wort. „Wir freuen uns, wenn wir sehen, wie sie alle staunend vor uns stehen, wenn uns das Kerzenlicht erstrahlen lässt!“, rufen die Weihnachtskugeln im Chor. Da wird der kleine unzufriedene Weihnachtsengel mit einem Mal ganz still und hat bis zum Ende der Weihnachtszeit auch nicht mehr gesprochen.
Im Wolkenschloss herrscht große Aufregung. Aus allen Richtungen fliegen die kleinen und großen Engel in den Festsaal. Das Christkind, die Weihnachtsfee und die drei kleinen Kobolde Tomtebisse, Tomte und Nisse sind auch bereits da. „Platz da für den Weihnachtsmann!“, schreit der kleine Engel Krakael und fliegt mit großer Geschwindigkeit und hochrotem Köpfchen auf Rednose, dem Rentier mit der roten Nase, in den Saal. Dicht hinter ihm sind schon die acht Rentiere mit dem Schlitten und dem Weihnachtsmann. „Hoho, frohe Weihnachten wünsche ich euch allen“, seine tiefe Stimme schallt durch den Raum, „bringt den Rentieren Futter, damit sie sich sattfressen können vor der langen Fahrt!“ Er winkt drei Engel herbei und überreicht ihnen die Zügel. „Aber vite, vite, gleich wird kommen der ERR!“, ruft die Weihnachtsfee den davonfliegenden Engeln hinterher. „Immer mit der Ruhe, Madame. Sind denn überhaupt schon alle da?“, prüfend blickt sich der Weihnachtsmann um. Dann senkt er ehrfürchtig seine Stimme: „Wann wird ER kommen?“ „ER muss jeden Augenblick erscheinen“, flüstert das Christkind. Wie jedes Jahr am Heiligen Abend haben sich alle Geschöpfe des Himmels im Wolkensaal versammelt. Sie werden in wenigen Minuten mit Gottes Segen auf die Erde fliegen, um den Menschen die Weihnachtsfreude zu bringen.
„Ruhe, bitte!“, wohlklingend ertönt die Stimme Gottes und im Saal wird es ganz still. So still, dass die Streiterei der drei kleinen Kobolde darüber, ob sie nachher zuerst nach Finnland, Schweden oder Dänemark fliegen sollen, besonders laut zu hören ist. „Ruhe, bitte! Das gilt auch für die roten Erdnuckel!“ Verschämt schweigen nun auch die drei Julnisser. „Nun, von drauß’ vom Wolkenfenster komm’ ich her und ich kann euch sagen, es weihnachtet auf Erden auch in diesem Jahr wieder sehr. Ihr werdet sehnsüchtig erwartet. Das himmlische Postamt hatte auch diesmal alle Hände voll zu tun, damit euch die vielen Wünsche der kleinen und großen Menschenkinder rechtzeitig erreichen. Habt vielen Dank, ihr Postengel! Wie wir alle wissen, können wir nicht jeden Wunsch erfüllen, denn was wäre ein Leben ohne Wunsch und Traum?“ „Stinklangweilig!“, rufen die drei Kobolde wie aus einem Mund, wobei nicht ganz klar ist, was sie eigentlich damit meinen. „Ganz richtig, ihr vorwitzigen Bodennippel! Wie ich hörte, ist die Generalprobe zum diesjährigen Weihnachtsfest recht gut verlaufen. Entschuldigt bitte meine Abwesenheit, aber ich hatte eine dringende Besprechung. Vielleicht kann mir Erzengel Gabriel kurz berichten, wo etwas verbessert werden sollte?“ Alle im Saal blicken sich nach dem Erzengel um. „Äh, lieber Vater, Gabriel ist gerade nicht da. Er ist – äh - in … geheimer Mission unterwegs.“ Erzengel Michael schaut verlegen auf seine Flügelspitzen. „Ja, genau“, bestätigt Erzengel Raphael, “in besonders geheimer Mission!“ „So, so in geheimer Mission ist er also unterwegs.“ Der liebe Gott sieht etwas ratlos aus. „Sollte ich dann nicht derjenige sein, der ihn losgeschickt hat? Komisch, ich kann mich gar nicht erinnern …“ „Du kannst dich auf Gabriel verlassen, guter Vater, spätestens zur Verkündigung ist er wieder an seinem Platz“, versichert Michael schnell. „Ohne Engel Gabriel geht nix und das Fest fällt aus ganz fix“, feixen die drei Kobolde, was ihnen so manchen bösen Blick der anderen einbringt.
„Es wird schon alles seine Richtigkeit haben“, sagt der liebe Gott beschwichtigend. „Kommen wir nun zu euch anderen: Bitte haltet beim Abflug genügend Abstand, damit es nicht wieder zum Stau auf der Milchstraße kommt. Vergesst nicht, immer ein wenig Engelstaub in den Häusern zu hinterlassen! Außerdem bitte ich das Christkind und den Weihnachtsmann inständig, darauf zu achten, nicht wieder die zugewiesenen Familien zu verwechseln. Am letzten Heiligabend kam es deshalb zu Streitereien, weil ihr da wohl einiges durcheinandergebracht habt.“ „Wir dachten, das würde frischen Wind in die Angelegenheit bringen“, rechtfertigt sich das Christkind trotzig. Der liebe Gott schaut das himmlische Kind nachsichtig an: „Aber ihr wisst doch, wie wichtig es gerade den Erwachsenen ist, dass immer alles so bleibt, wie es ist.“ „Die Kinder fanden es ganz toll“, wirft der Weihnachtsmann ein. „Ja, so toll, dass einige schon gar nicht mehr an euch glauben wollten, bei dem Hin und Her! Das geht doch nicht, meine Lieben! Bei der Gelegenheit möchte ich dich, lieber Weihnachtsmann, auch daran erinnern, die Rentiere ordnungsgemäß zu parken. Es hat einige Beschwerden von den Luftgeistern gegeben, weil sich die Rentiere auf den Dächern und in den Vorgärten unmöglich benommen haben sollen.“ „So ganz genau weiß ich auch nicht, was damit gemeint sein könnte“, überlegt der Weihnachtsmann. „Ich gebe zu, dass ihr Benehmen, wenn es um das Futter geht, besser sein könnte.“ „Apfel, Nuss und Mandelkern frisst das Rentier gar zu gern. Und ist’s auch mal ne faule Nuss, dann gibt’s nen ordentlichen Schuss!“, reimen die Kobolde und halten sich ihre roten Bäuchlein vor Lachen, bis sie der Weihnachtsmann an ihren roten Zipfelmützchen zieht.
„Wie dem auch sei“, fährt der liebe Gott fort, „die Weihnachtsbotschaft lautet: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen! Diese Nachricht sollt ihr nun bis in die entlegensten Winkel dieser Erde bringen, auf dass die Weihnachtsfreude die Herzen der Menschen erleuchtet und wärmt. Daher sage ich euch: Gesegnete Weihnachten und guten Flug!“
Eines Nachts hatte ich einen Traum. Ich ging am Meer entlang mit meinem Schutzengel. Vor dem dunklen Nachthimmel erstrahlten, Streifenlichtern gleich, Bilder aus meinem Leben und jedes Mal sah ich zwei Fußspuren im Sand, meine eigene und die meines Schutzengels. Als das letzte Bild an meinen Augen vorüber gezogen war, blickte ich zurück. Ich erschrak, als ich entdeckte, dass an vielen Stellen meines Lebensweges nur eine Spur zu sehen war. Und das waren gerade die schwersten Zeiten meines Lebens. Besorgt fragte ich den Schutzengel: „Engel, als ich anfing, dir nachzufolgen, da hast du mir versprochen, auf allen Wegen bei mir zu sein, aber jetzt entdecke ich, dass in den schwersten Zeiten meines Lebens nur eine Spur im Sand zu sehen ist. Warum hast du mich allein gelassen, als ich dich am meisten brauchte?“ Da antwortete er: „Ich liebe dich und werde dich nie alleine lassen, erst recht nicht in Nöten und Schwierigkeiten. Dort, wo du nur eine Spur gesehen hast, da habe ich dich getragen!“